Grundsatzrede von Präsidentin von der Leyen auf dem Internationalen WDR Europaforum 2021

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich beim Europaforum des WDR zu Gast zu sein. Diese Diskussionen sind heute wichtiger denn je: Denn immer mehr Entscheidungen mit direkten Auswirkungen für unsere Bürgerinnen und Bürger fallen in Europa. Ich denke da an den Kampf gegen den Klimawandel. Ich denke an die Frage, wie unsere Wirtschaft nach der Coronakrise wieder durchstarten kann.

Und ich denke an das Thema, das viele von uns in den vergangenen Wochen besonders stark beschäftigt hat – die Frage der Impfungen. Am Anfang gab es viel Kritik an der EU. Was am Ende zählt ist, dass die Europäische Union ihren 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern Tag für Tag verlässlich Impfstoff liefert. Und dass wir sagen können: Wir haben das zusammen geschafft – als Gemeinschaft.

Gemessen daran ist unsere europäische Impfkampagne ein Erfolg. Lassen Sie mich ein paar aktuelle Zahlen nennen. Bis Ende dieser Woche werden in Europa rund 260 Millionen Dosen Impfstoff ausgeliefert sein. Das ist heute schon mehr als genug, um die Hälfte der Erwachsenen in Europa zu impfen. Jede Sekunde werden im Schnitt 30 Menschen in Europa geimpft. Das bedeutet, dass am Ende meiner Rede mehr als 20 000   Menschen zusätzlich geimpft sein werden. Insgesamt haben wir heute mehr als 200 Millionen Impfungen in Europa erreicht. Und das Tempo steigt weiter.

Am Wichtigsten für Europas Zukunft ist, dass wir uns nicht haben spalten lassen. Alle 27 Mitgliedsstaaten, ob groß oder klein, ob wohlhabend oder nicht, haben zusammengehalten. So eine Pandemie gab es seit 100 Jahren nicht. Wir können gemeinsam stolz sein auf das Erreichte – und auch dankbar. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern. Den Ärztinnen und Ärzten. Dem Pflegepersonal in Impfzentren, Krankenhäusern und Arztpraxen. Der Wissenschaft und allen, die mitgeholfen haben, dass wir nun allmählich nach vorne schauen können. Überall in unserer Europäischen Union.

Wir sind auf gutem Wege. Bis Ende Juli, wollen wir 70% aller Erwachsenen in Europa ein Impfangebot gemacht haben. Lassen Sie mich diese Zahl ein wenig ins Verhältnis rücken. 70% im Juli – das ist fast dasselbe Ziel, das sich die USA derzeit setzen. Das zeigt, wie sehr sich unsere Impfkampagnen angenähert haben. Ja, wenige Länder wie die USA oder das Vereinigte Königreich waren am Anfang etwas schneller als wir. Das hat sich mit der Zeit relativiert.

Es lohnt auch, bei solchen Vergleichen immer das gesamte Bild in den Blick zu nehmen. Andere behalten ihre gesamte Impfstoffproduktion nur für sich. Europa wird seine Impfziele erreichen, ohne sich abzuschotten. Wir sind heute der weltgrößte Exporteur von Impfstoffen. Wir haben bislang mehr als 220 Millionen Dosen in die ganze Welt exportiert. Das ist in etwa genauso viel, wie wir selbst hier in Europa verimpfen. In der EU produzierte Impfstoffe gehen an enge Verbündete wie Kanada und Großbritannien. Wir liefern an unsere Freunde in Japan, nach Singapur, Mexiko und Kolumbien. Und an die Impf-Allianz COVAX, die ärmeren Ländern helfen soll.

Wir sind die einzige Region in der Welt, die es geschafft hat, sowohl die eigene Bevölkerung zu versorgen, als auch fair mit anderen zu teilen. Darauf, dass unser Europa in dieser Krise Fairness und Offenheit lebt, können wir gemeinsam stolz sein!

Diese Impfstoffe “made in Europe” helfen in vielen Regionen der Welt gegen die Ausbreitung des Virus. Und damit auch gegen weitere Mutationen. Wir müssen uns gegenseitig schützen. Deswegen appellieren wir an alle Herstellerländer, dem Beispiel Europas zu folgen! Denn richtig sicher sind wir erst, wenn alle geschützt sind.

Aber wir planen bereits weiter voraus. Wir brauchen Auffrischungsimpfungen. Wir wollen auch Kindern und Jugendlichen möglichst bald ein Impfangebot machen. Und wir müssen bei gefährlichen Mutationen rasch mit verbesserten Vakzinen reagieren. Daher haben wir einen neuen Vertrag geschlossen. BioNTech-Pfizer wird uns noch einmal bis zu 1,8 Milliarden Dosen Impfstoff liefern. Hier ist Europa vor der Welle. Das ist der größte Impfstoffvertrag weltweit. Und Europas Lebensversicherung gegen eine Dauerkrise.

Wir denken dabei auch an unsere Nachbarn und Freunde. Für uns bedeutet das konkret, dass wir Afrika unterstützen, eigene Kapazitäten für Impfstoffe aufzubauen. Darauf haben wir uns soeben in Paris verständigt. Wir wollen den Transfer von Wissen erleichtern. Pharmafirmen vergeben Lizenzen. Personal wird geschult an Universitäten und in dualer Ausbildung. Afrika richtet eine eigene Medizinagentur ein. Und wir helfen als Europäische Union mit Know-how und bei der Finanzierung.  Impfstoffe müssen künftig überall hergestellt werden. All das schützt auch uns in Europa.

Gleichzeitig setzen wir uns gemeinsam neue Ziele. Wir gestalten jetzt die nächsten Jahrzehnte. Europa hat bereits im vergangenen Jahr ein Vorhaben in Angriff genommen, das in dieser Größenordnung beispiellos ist. Weil wir ein starker Binnenmarkt sind, investieren wir gemeinsam in den dringend nötigen Aufschwung nach Corona. Mit Rückendeckung aller 27 Mitgliedstaaten mobilisieren wir 750 Milliarden EUR.

NextGenerationEU ist der größte Aufbauplan in Europa seit dem Marshallplan. Und eine Jahrhundert-Investition in den Zusammenhalt unserer Gemeinschaft. Mit diesem Schub soll Europa nicht nur stärker aus der Krise kommen, sondern auch eine kraftvolle Antwort geben auf die großen Herausforderungen unserer Zeit. Die Digitalisierung und den Klimawandel.

Sie kennen das alle: Das zunehmend extreme Wetter. Dürren, Überflutungen, Stürme, sterbende Wälder. Und der Verlust biologischer Vielfalt. Der Klimawandel ist Realität. Und die Aussagen der Wissenschaft sind klar und deutlich: Wir müssen handeln. Und zwar jetzt.

Europas Plan steht: Der Europäische Green Deal, den meine Kommission vor eineinhalb Jahren vorgeschlagen hat, wird von allen 27 Staaten mitgetragen. Europa will bis zum Jahr 2050 der erste klimaneutrale Kontinent der Erde sein. Und viele in der Welt folgen uns inzwischen: Südafrika, Südkorea, Japan, China und auch die USA – sie alle kündigen jetzt Ziele an, für eine Zukunft ohne Emissionen. Das ist Rückenwind für uns. Und es zeigt, dass Europa Schrittmacher sein kann!

Es ist gut, die Ankündigungen zum globalen Klimaschutz zu hören. Mindestens ebenso wichtig ist es jedoch, diese Zusagen mit konkreten Vorhaben zu unterfüttern. Auch hier ist Europa Vorbild. Auch hier geben wir der Welt ein Beispiel. Europa hat im April das erste europäische Klimaschutzgesetz überhaupt auf den Weg gebracht. Damit sind die Klimaschutzziele der Europäischen Union jetzt verbindlich in ein Gesetz gegossen – sie gelten für uns alle. Klimaneutralität bis 2050, Rückgang der Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55%.

Als nächstes legen wir im Sommer die konkreten einzelnen Schritte fest, wie wir diese Ziele erreichen wollen. „Fit für 55“ – so heißt das Paket. Es spannt den Bogen von einem verbesserten Emissionshandelssystem – über Vorgaben für erneuerbare Energien – bis hin zur Speicherung von CO2 in mehr Wald- und Feuchtgebieten.

Wir setzen damit genau das um, was das Bundesverfassungsgericht zuletzt für Deutschland angemahnt hat: Wir reichen schwierige Entscheidungen nicht einfach an künftige Generationen weiter. Europa handelt im Hier und Jetzt und zeichnet den Weg weit nach vorne. Die EU ist damit Taktgeber nach innen und der Europäische Green Deal wird zum Vorbild für konkreten Klimaschutz in der Welt.

Europa geht noch weiter. Es macht Klimaschutz zu seiner neuen Wachstumsstrategie. Wir haben die Forschung und die innovativen Unternehmen. Deswegen ist, was jetzt kommt, die Chance für unsere Wirtschaft. Denn Europa investiert weiter in den Vorsprung. Mehr als ein Drittel von den 750 Milliarden EUR in unserem Aufbauplan sind für den Europäischen Green Deal vorgesehen.

Das kann einen enormen Schub bedeuten: für die klimafreundliche Sanierung von Altbauten, für eine saubere, mit Wasserstoff betriebene Stahlindustrie, oder beim Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektroautos. Der Wettbewerb um die besten Projekte ist eröffnet. Und ich wünsche mir, dass innovative Unternehmen auch aus Deutschland dabei weiterhin ganz vorne mitspielen!

Meine Damen und Herren,

Europa hat sich geschüttelt und in der Krise bewährt. Und Europa liefert jeden Tag für seine Bürgerinnen und Bürger. So wie es sich unsere Mütter und Väter erhofft haben, als sie unser Europa gründeten. Wir helfen unseren Unternehmen in der Krise und bleiben offen und fair zum Rest der Welt.

Für unsere Kinder ist dieses Europa heute ein Kontinent voller Möglichkeiten. Eine Kraft für das Gute in der Welt. Eine demokratische Union, die zwar untereinander diskutiert, aber in ihrem Handeln das morgen nicht vergisst, sondern prägt. Dieses Europa ist unsere beste Chance auf eine gute Zukunft. Dafür lohnt es sich zu streiten. Jeden Tag von Neuem.

Vielen Dank!