Rede von Präsidentin von der Leyen beim F.A.Z.-Leserkongress 2022 „Zwischen den Zeilen” per Videokonferenz

Vielen Dank für die Einladung, ich freue mich sehr, dass ich heute bei Ihnen beim F.A.Z.-Kongress zugeschaltet bin. In der Tat, Sie haben sich ein spannendes Thema vorgenommen – die Zukunft Europas. Und diese Zukunft wird zum Teil in diesen Tagen entschieden. Und zwar nicht allein in den Institutionen in Brüssel, sondern vor allem auch in den Mitgliedstaaten. Diese großen Krisen und Herausforderungen – so unterschiedlich sie auch sein mögen – sie verlangen von uns eine ganz, ganz enge Zusammenarbeit. Wenn ich nur ein paar Beispiele anbringen darf: Die Klimakrise bedroht unsere Lebensgrundlagen. Wir müssen die Erderwärmung stoppen. Die geht ja weiter während alle anderen Krisen uns beschäftigen. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass wir weltweit unsere Gesundheitssysteme reformieren müssen und vor allem unsere Lieferketten festigen müssen. Und Putins Krieg in der Ukraine fordert jetzt unsere europäische Friedensarchitektur fundamental heraus.

Und ja, die Bedeutung der russischen Aggression für Europa und für die anderen Demokratien der Welt ist kaum zu überschätzen. Denn eins müssen wir uns klarmachen: Es geht in der Ukraine nicht allein um das Schicksal unserer Nachbarn und seiner tapferen Menschen. Auch für uns, auch für die Europäische Union steht unglaublich viel auf dem Spiel. Allein die Frage: Wird sich Gewalt als Mittel der Politik wieder in Europa etablieren? Oder gelingt es uns, unsere Sicherheitsordnung zu bewahren, mit der wir jahrzehntelang Stabilität und Wohlstand gehabt haben? Wird es jetzt ständig Konflikte und Kämpfe geben? Oder wird es eine Zukunft mit gemeinsamem Wohlstand und dauerhaftem Frieden geben? Und vor allem die Frage: Werden es Autokraten sein, die uns ihre Weltsicht aufzwingen? Oder gelingt es uns Demokraten, unsere Werte zu verteidigen? Die Antworten, die wir Europäerinnen und Europäer, aber auch andere Demokratien weltweit, auf diese Fragen geben, werden ganz klar die nächsten Jahrzehnte prägen. Das gilt für unser Zusammenleben in Europa, aber auch darüber hinaus. Denn der Rest der Welt beobachtet ganz genau, mit welcher Haltung und mit welcher Konsequenz wir uns für unsere Werte einsetzen.

Ich bin daher zuallererst dankbar, dass Europa auf diese Herausforderung – jetzt seit zehn Wochen dauert der Krieg, den Putin in der Ukraine entfacht hat – Woche um Woche mit großer Geschlossenheit antwortet. Wir arbeiten zusammen. Aber wir arbeiten auch in einer ganz, ganz engen Abstimmung mit unseren transatlantischen Partnern und Großbritannien, das hat es lange nicht gegeben. Die Europäische Union leistet in der Ukraine seit dem ersten Tag der Invasion wirtschaftliche und humanitäre Hilfe in Milliardenhöhe. Um Ihnen eine Zahl zu geben: Alleine in den letzten zehn Wochen, haben wir dafür 4 Milliarden EUR eingesetzt. Sie wissen, dass wir den Ankauf von Waffen für die ukrainische Armee zu ihrer Verteidigung in Höhe von bisher 1,5 Milliarden EUR finanziert haben. Das ist das allererste Mal, dass die Europäische Union diesen Schritt unternimmt. Und ganz wichtig: Wir kümmern uns um die mittlerweile fünf Millionen Menschen, die aus der Ukraine wegen Putins Bomben geflohen sind. Vor allem hat aber unsere Union – immerhin 27 Mitgliedstaaten – einstimmig und in großer Geschwindigkeit in diesen zehn Wochen harte Sanktionspakete beschlossen. Wir tun das, weil der Überfall auf die Ukraine seinen Preis für den Aggressor haben muss. Nochmal: Es geht hier weit über die Ukraine hinaus. Die Autokraten dieser Welt müssen wissen, dass die Demokratien sich wehren können, und dass sie ihre Werte verteidigen.

Sie wissen aus der aktuellen Diskussion, dass wir als nächsten Schritt ein Ölembargo verhängen wollen. Ich habe Mittwoch, also vorgestern, diesen Vorschlag dazu präsentiert. Ich habe gleich gesagt, dass das nicht einfach wird. Aber wir können nicht auf Dauer große Summen an ein Land überweisen, das unsere Nachbarn mit einem durch nichts zu rechtfertigenden Krieg überzieht. Der Export von Öl und auch von den auf Öl basierenden Produkten, wie zum Beispiel Diesel und Heizöl, ist eine der Haupteinnahmequellen des Kreml. Und genau diese Einnahmequelle wollen wir in den nächsten Monaten trockenlegen, damit es eben nicht möglich ist, dass Putin weiter seinen Krieg finanziert. Wir wollen diese Einnahmequelle so trockenlegen, dass es dem Kreml maximal schadet – während wir unsere Wirtschaft schonen, soweit das irgendwie möglich ist. Das heißt, das ist eine ganz feine Linie, die wir finden müssen. Warum? Weil unsere wirtschaftliche Stärke natürlich ein mächtiger Hebel ist, um die Ukraine zu unterstützen, auf der einen Seite, und um, auf der anderen Seite, Druck auf Russland auszuüben. Die Unabhängigkeit von Russlands Willkür und von seinen Rohstoffen erfordert natürlich auch von uns einen Preis. Aber der Preis für den Kreml ist ungleich höher.

Wenn man sich die Zahlen anschaut: Die Sanktionen fressen sich Tag für Tag, Woche um Woche, tiefer in die russische Wirtschaft. Die russische Zentralbank rechnet mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung in Russland in diesem Jahr von 10%. Und die Weltbank hat das gerade bei dem Frühlingstreffen bestätigt und geht sogar von einer Schrumpfung von 11,5% des Bruttoinlandsproduktes Russlands aus. Das heißt, Putins Krieg versucht nicht nur die Ukraine von der Landkarte zu streichen, sondern Putins Krieg zerstört auch sein eigenes Land. Es ist daher kein Wunder, dass wir sehen, dass die junge Elite, darunter ganz viele IT-Leute, zu Zehntausenden Russland verlassen. Denn diese brutale Politik die der Kreml macht, raubt den Menschen auch in Russland jede Zukunftschance.

Aber auch Europa muss seine Hausaufgaben machen. Denn nochmal, wir können unsere Werte, die Demokratie, die Freiheit, den Rechtstaat, das Recht jeden Landes seine Zukunft selbst zu bestimmen, wir können all das nur wirkungsvoll verteidigen, wenn wir selbst stark sind. Putins Krieg hat uns deutlich vor Augen geführt, wo wir Nachholbedarf haben. Wir werden sicher nachher in der Diskussion darauf noch detailliert eingehen. Ich möchte mich zunächst auf ein Feld konzentrieren, wo wir akut großen Handlungsbedarf haben, – das ist auch die aktuelle Diskussion, die wir überall führen – und das ist die Energiepolitik.

Über Öl habe ich bereits gesprochen. Wir müssen uns darüber hinaus von unserer Abhängigkeit von russischem Gas lösen. Heute importiert Europa 90% seines Gases. 45% dieser Einfuhren stammen aus Russland. Spätestens seit den Ereignissen der vergangenen Woche – sie erinnern sich, dass Gazprom Gaslieferungen nach Polen und nach Bulgarien gestoppt hat– spätestens seit dann, ist auch dem Letzten klar: Das kann so nicht weitergehen, diese Abhängigkeit. Russland ist kein zuverlässiger Partner mehr. Und, mehr noch, der Kreml nutzt seine Marktstellung, um Europa zu drohen, um uns zu spalten und uns zu erpressen. Das heißt, wir dürfen uns nicht weiter von einem solchen Lieferanten abhängig machen. Und wir dürfen nicht länger einem Land, das seinen Nachbarn überfällt, Milliardeneinnahmen ermöglichen.

Energiepolitik war und ist immer auch Sicherheitspolitik. Deshalb arbeiten wir, bereits seit einigen Monaten, mit Hochdruck daran, unsere Gasimporte aus Russland zu senken. Sie wissen, dass wir jetzt quasi im Wochentakt alternative Bezugsquellen, Flüssiggas zum Beispiel, aus aller Welt erschließen. Die am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel auch Deutschland, sind sehr aktiv, dafür bin ich sehr dankbar. Aber wir auch auf der europäischen Ebene tragen unseren Teil bei. Ich habe vor Ostern mit dem amerikanischen Präsident Biden zum Beispiel zusätzliche Flüssiggas-Lieferungen aus den USA vereinbart, die, in der Menge, ab nächstem Jahr ein Drittel des russischen Gases schon mal ersetzen. Das ist gut, aber wir müssen natürlich noch mehr machen.

Das wirksamste Mittel, dass wir haben um unabhängig zu werden, ist für uns der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, aus Gas, und der Umstieg auf erneuerbare Energien. Und deshalb diese massiven Investitionen in Infrastruktur, hier in Europa, vor allem der Umstieg auf grünen Wasserstoff, aber auch die anderen erneuerbaren Energien. Wenn man es mal ganz einfach auf den Punkt bringt, ob das nun Sonnenenergie ist, oder Windkraft, Wasserkraft oder Biomasse, jede weitere Kilowattstunde Strom, die wir hier in Europa aus erneuerbaren Energien selbst produzieren, verringert unsere Abhängigkeit von anderen, ist gut für unser Klima und unseren Planeten, und schafft Arbeitsplätze hier zuhause.

Der Ausbau der heimischen erneuerbaren Energien ist gleichzeitig unsere beste Antwort auf die steigenden Energiepreise. Denn es sind die kohlenstofflastigen, das heißt die alten Energien – Öl, Kohle und Gas – die jetzt immer teurer werden. Es sind die Gaspreise, die durch die Decke schießen. Die Kosten für erneuerbare Energien dagegen sinken seit vielen Jahren kontinuierlich.

Und ich will Ihnen ein Beispiel geben. Ich spreche, wie sie wissen, heute hier aus Barcelona: Für die Unternehmen und Haushalte in Spanien und Portugal werden jetzt gerade die Strompreise drastisch gesenkt. Und das ist in diesen beiden Ländern nur möglich, weil sie heute schon fast zwei Drittel ihres Bedarfs aus erneuerbaren Energiequellen decken.

Wir haben, das zeigt dieses Beispiel, in Europa haben wir den großen Vorteil, bei allen der Schwierigkeiten die wir haben, dass wir bereits, mit Blick auf die erneuerbare Energien, auf einem guten Weg sind, um mehr Versorgungssicherheit für unseren Kontinent zu erreichen. Sie wissen: Wir haben den Europäischen Green Deal. Sie wissen, dass wir gemeinsam eine Klimagesetzgebung haben. Und Sie wissen, dass wir Milliardeninvestitionen, genau für diese erneuerbare Energien, auf den Weg gebracht haben. Aber, und das ist uns jetzt auch klar, angesichts des Krieges und des Drucks der Energiepreise, müssen wir das was wir angefangen haben, nämlich den Ausbau der erneuerbaren Energien massiv beschleunigen. Einerseits durch Investition. Aber andererseits auch um den erneuerbaren Energien gewissermaßen Vorfahrt zu geben,. Das heißt, wenn wir uns das ganze Thema Genehmigungsverfahren anschauen, dann müssen wir jetzt schnellere Genehmigungen für den Ausbau von Windparks, für das Aufstellen von Windrädern haben und all diese Themen, die dazu gehören. Wir bauen unsere Ziele für grünen Wasserstoff auch deutlich aus. Ich bin der festen Überzeugung, dass der grüne Wasserstoff die Energieform ist, die wichtigen Teilen unserer heimischen Industrie eine produktive und eine emissionsfreie Zukunft ermöglichen wird.

Meine Damen und Herren,

soweit zum Energiethema. Putins Krieg gegen die Ukraine und die notwendigen Sanktionen sind ja in Wahrheit auch weit mehr als ein Stresstest für unsere Wirtschaft. Ich war vor Ostern in der Ukraine. Ich war in Kyiv, habe mit Präsident Selenskyj gesprochen. Und ich war in Butscha mit Premierminister Shmyhal. Ich habe dort die Überlebenden getroffen, die immer noch nach Worten rangen, um das Unaussprechliche zu beschreiben. Ich habe die Massengräber gesehen; ich habe die Leichensäcke, direkt neben einer Kirche aufgereiht, gesehen. Ich habe, wenn ich durch die Straßen gefahren bin, die zerbombten Wohnungen, die zerschossenen Krankenhäuser und die zerstörten Schulen gesehen – soweit das Auge reicht.

Meine Damen und Herren,

das ist die Realität des Krieges, mit dem Putins Armee die Ukraine überzieht. Für mich sind diese Bilder und diese Eindrücke eine eindringliche Mahnung. Putin begeht einen Zivilisationsbruch. Und wir müssen als demokratische Gesellschaften eindeutig Position beziehen. Unser Platz ist an der Seite der Ukraine, die sich so vehement und so tapfer gegen den Aggressor stemmt. Wir wollen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen so tapfer, weil sie genau wissen, was für eine Zukunft sie wollen. Sie wollen kein Leben unter der Willkür des Autokraten – ohne bürgerliche Freiheiten, ohne demokratischen Diskurs, ohne freie Presse. Wofür die Menschen, die ich in Kyiv und Butscha getroffen habe, kämpfen, das ist eine Zukunft als freie und als offene Gesellschaft. Als Demokratie, es sind unsere europäischen Werte, die sie verteidigen. Sie wollen nicht mehr und nicht weniger als die Zugehörigkeit zu einer starken demokratischen Gemeinschaft.

Mich haben die Gespräche mit den Menschen in der Ukraine zutiefst berührt. Denn in dem Sehnen, geradezu, dem Sehnen der jungen Generation in der Ukraine spiegelt sich wieder, was wir in den vergangenen Jahrzehnten als europäische Gemeinschaft erreicht haben und was wir viel zu häufig als selbstverständlich ansehen. Der Frieden, die Freiheit, die Rechtsordnung und die wirtschaftliche Sicherheit, die uns Europa gebracht hat. Es lohnt sich, für dieses Europa einzustehen; es lohnt sich für dieses Europa zu kämpfen; und es lohnt sich, in dieses Europa zu investieren und es jeden Tag zu festigen. Denn unsere Zukunft, das ist dieses Europa. Daher freue ich mich nun auf unsere Diskussion.

Vielen Dank!