Rede von Präsidentin von der Leyen anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen
„Es gilt das gesprochene Wort“
Eure Majestät,
sehr geehrter Herr Bundeskanzler Merz,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Keupen,
sehr geehrter Herr Dr. Linden,
werte Preisträgerinnen und Preisträger des Karlspreises,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
Europa ist mein Leben. Und es ist die größte Ehre meines Lebens, heute hier vor Ihnen allen zu stehen. Zunächst möchte ich mich bei Ihrer Majestät König Felipe und Bundeskanzler Merz aus vollem Herzen danken. Ihre Worte atmen den Geist des Karlspreises. Und dieser Preis, diese Stadt sind das Symbol für ein vereintes Europa. So Vieles in Aachen zeugt von unserer Kultur und Geschichte. Von Europas herausragender Schönheit – und von unseren tragischen Kämpfen. Unseren vielen Renaissancen, unserer Wiedergeburt aus der Asche. Das Wunder Europa – die Wiedervereinigung von Völkern, Geschichte und Schicksal – sind in dieser Stadt festgeschrieben. Ich bin schon gestern hier angekommen und hatte deshalb den seltenen Luxus, mit etwas Ruhe über dieses Wunder und seine größere Bedeutung nachzudenken. Darüber, woher Europa kommt, was es heute ist. Und noch wichtiger, wohin wir in dieser historisch angespannten Zeit steuern. Hier im Zentrum von Aachen gibt es drei Denkmäler. Sie sprechen eindringlich von der Geschichte, der Bedeutung Europas.
Als erstes der Aachener Dom. Ich durfte heute Morgen an einer besonderen Messe teilnehmen. Wer die Pfalzkappelle sieht, spürt das Gewicht der Geschichte. Das Zentrum der Macht im Europa des 9. Jahrhunderts – was für ein Ort, was für eine Wucht. Der Dom ist wahrlich ein einzigartiges Zeugnis der geistigen, kulturellen und politischen Renaissance Europas, angestoßen durch die Vision Karls des Großen. Seine Idee für Europa war, einen Raum zu schaffen, in dem sich Wissenschaft und Kultur, Bildung und Rechtstaatlichkeit entfalten können. Wo Menschen nach Wissen und nach gemeinsamen Werten streben. Er war überzeugt davon, dass die Zukunft Europas auf seiner Vergangenheit gründet. So wie die Pfalzkapelle selbst – inspiriert von der byzantinischen, römischen und klassischen Kunst, aber gestaltet für die neue Zeit. So, wie auch unsere Zukunft immer auf unserer Vergangenheit aufbauen wird. Kultur und Wissen. Geschichte und Werte. Meine Damen und Herren, das ist es, was Europa für mich bedeutet.
Den zweiten Ort in Aachen, der so entscheidend ist, um Europa zu verstehen, gibt es nicht mehr. Vor genau 100 Jahren, im Mai 1925, heiratete in der Alten Synagoge von Aachen eine junge Frau. Voller Hoffnung auf die Zukunft. Edith Holländer. Edith Holländer und ihre Familie gehörten zu der relativ kleinen, aber florierenden jüdischen Gemeinde Aachens. Nur wenige Jahre nach der Hochzeit wurde die Alte Synagoge während der Reichspogromnacht zerstört und niedergebrannt. Ein dunkler, brutaler Vorbote dessen, was noch kommen sollte. Nach dem Krieg kehrten nur 25 jüdische Überlebende nach Aachen zurück. Edith Holländer gehörte nicht zu ihnen. Sie und ihr Mann Otto waren kurz nach der Machtergreifung in die Niederlande geflohen. Und von dort aus – in Amsterdam – begann ihre jüngste Tochter Anne während des Krieges Tagebuch zu schreiben. Dieses Tagebuch – das Tagebuch der Anne Frank – wurde zum Zeugnis für das Leben eines heranwachsenden Mädchens, zwischen Hoffnung und Angst, gefangen in der Enge, versteckt vor den Nazis, bedroht von Haft und Tod. Und es lehrt uns bis heute viel über das Wesen der Menschen selbst. Erlauben Sie mir, Anne Frank mit einem Satz zu zitieren, der mich schon als junge Schülerin sehr berührt hat und heute noch mehr beeindruckt. Sie schreibt: „Und doch, wenn ich zum Himmel schaue, denke ich, dass sich alles wieder zum Guten wenden wird, dass auch diese Härte aufhören wird, dass wieder Ruhe und Frieden in die Weltordnung kommen werden. Inzwischen muss ich meine Ideale hochhalten, in den Zeiten, die kommen, sind sie vielleicht doch noch auszuführen.“ Weder Anne noch ihre Schwester Margot noch Edith Holländer sollten jemals die Chance dazu bekommen. Heute gibt es in Aachen eine neue Synagoge. Ein Symbol der Wiedergeburt, aber auch der Erinnerung. Eine schmerzhafte Mahnung an Europa, wachsam und unnachgiebig zu sein gegenüber all jenen, die Hass säen und unsere Gesellschaft spalten wollen. Diesen Weg kennt Europa nur allzu gut. Wir wissen: Er führt unweigerlich ins Verderben. Niemals, niemals wieder dürfen wir uns auf diesen Weg begeben. Für mich sind diese Worte von Anne Frank eine Lektion in Menschlichkeit. Eine Pflicht niemals zu vergessen, und der Auftrag eine Gesellschaft zu schaffen, in der jedes Kind seine Träume und Ideale verwirklichen kann. Das ist, was Europa auch für mich bedeutet. Heute und immer.
Der dritte Ort, über den ich sprechen möchte, ist dieses Rathaus, in dem wir uns heute befinden. Vor 75 Jahren wurde genau hier der europäische Vordenker Richard Coudenhove-Kalergi als erster mit der Karlspreismedaille ausgezeichnet. Auch er hatte eine Vision von Europa: Ein Europa, in dem Menschen dank gemeinsamer Kultur und Werte, Freiheit und Menschenwürde zusammenkommen. Ein Europa, inspiriert durch große Ideen und großen Ambitionen. Im Großen und Ganzen hat ihm die Geschichte der letzten 75 Jahre Recht gegeben. Die Generation der Gründerväter und -mütter unserer Union wollte Frieden und Sicherheit schaffen, auf dem vom Krieg so verwüsteten Kontinent. Die nachfolgende Generation wollte mit dem Binnenmarkt und später einer gemeinsamen Währung den Grundstein für Wohlstand für alle legen. Und für die Generation von 1989 ging es um Freiheit und die Wiedervereinigung Europas. Frieden und Wohlstand. Freiheit und Einheit. Meine Damen und Herren, auch das ist Europa für mich.
Der eigentliche Grund, warum ich mit diesen drei Symbolen begonnen habe, ist, dass sie etwas darüber aussagen, was es heißt, Europäerin zu sein und Europäer. Und was das für unsere Zukunft bedeutet. Sie zeigen uns, dass unsere Geschichte, die so grausam wie großartig ist, uns miteinander verbindet. Als Europäerinnen und Europäer. Als Generationen. Es sind nicht nur die gemeinsamen Träume, die uns verbinden, sondern auch die gemeinsamen Albträume. Und für mich persönlich zeigen sie auch, wie tief die Sehnsucht nach Erneuerung und Aufbruch in uns verwurzelt ist. Richard Coudenhove-Kalergi sagte einmal: „Das Wesen Europas ist der Wille, die Welt durch Handeln zu verändern und zu einem besseren Ort zu machen. Emanzipation, Reformation und Revolution sind ein fortwährender Zustand.“ Wenn ich mir die Welt um uns herum in all ihrer Instabilität anschaue, glaube ich, dass Europa diesen Geist neu entdecken muss. Den Geist des Muts, der Tatkraft, der Erneuerung. Es ist an der Zeit, dass Europa erneut aufsteht und das nächste, große europäische Projekt verwirklicht. Daher glaube ich, die nächste große Ära – unser nächstes großes, einendes Projekt muss von einem unabhängigen Europa handeln.
Liebe Freunde: ein unabhängiges Europa. Ich weiß, dass diese Botschaft für manche unheimlich klingen mag. Aber hier geht es im Kern um unsere Freiheit. Die Menschen Zentral- und Osteuropas wissen das schon lange. Persönliche Freiheit ist nur da möglich, wo es kollektive Unabhängigkeit gibt. Wir müssen der Realität von heute ins Auge sehen. Wir können nicht tatenlos den Umwälzungen zusehen. Wir können uns nicht von den gewaltigen Veränderungen, die wir erleben, aus der Bahn werfen lassen. Oder erneut dem Irrglauben verfallen, dass der Sturm einfach vorüberziehen wird. Dass alles wieder so wird wie früher. Wenn nur der Krieg endet; wenn nur ein Zollabkommen geschlossen wird; wenn nur die nächsten Wahlen anders ausgehen. So wird es nicht kommen. Denn die geopolitischen Spannungen sind gewaltig. Was wir einst als internationale Ordnung für selbstverständlich hielten, hat sich innerhalb kürzester Zeit in internationale Unordnung verwandelt. Die Welt ist erneut geprägt von imperialem Machtstreben und imperialen Kriegen. Von autoritären Mächten, die bereit sind, unsere Differenzen oder Abhängigkeiten schonungslos auszunutzen. Von Großmächten, die bereit sind, alle lauteren und unlauteren Mittel einzusetzen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Lange Zeit haben zu viele von uns geglaubt, dass diese Art von Ereignissen nur noch in Geschichtsbüchern vorkommt. Dass diese wirklich außergewöhnliche Zeit, in der der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer fielen und ganze Nationen und Völker befreit wurden, die neue Normalität sei. Wenn man jedoch die Geschichte unseres Kontinents betrachtet, wird klar, dass dies eher die Ausnahme ist, die die Regel bestätigt. Wir stehen also vor einer grundlegenden Entscheidung. Warten wir ab und reagieren wir nur auf die unmittelbare Krise? Akzeptieren wir unser vermeintliches Schicksal? Oder nehmen wir die Dinge selbst in die Hand und entscheiden selbst über unsere Zukunft? Eine Zukunft ohne Zwang und Aggression. Eine Zukunft, in der die nächste Generation den europäischen Traum leben kann, für den unsere Gründergeneration so hart gekämpft hat. Eine weltoffene Union. Eine Union, die Partnerschaften und Bündnisse schließt, um unsere Sicherheit und Wirtschaft zu stärken. Eine Union, die die natürlichen Lebensgrundlagen achtet. Eine Union, die aufsteht für ihre Werte und Interessen im globalen Gefüge. Eine Union, die für Stabilität in ganz Europa sorgt.
Und wenn ich Europa sage, meine ich natürlich unsere Union. Aber zusammen mit unseren Freunden und Partnern auf dem gesamten Kontinent. Vom Westbalkan bis zur Ukraine und der Moldau-Republik. Von Grönland bis zum Vereinigten Königreich und darüber hinaus. Wir haben die Pflicht, gemeinsam für Stabilität auf diesem Kontinent und gemeinsame Zukunftsperspektiven zu sorgen.
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
um ein unabhängiges Europa aufzubauen, müssen wir unsere Fesseln abwerfen. Wir müssen uns von der Angst vor Veränderungen befreien, die uns in der Vergangenheit bisweilen gelähmt hat. Stattdessen müssen wir denselben Ehrgeiz und dieselbe Einheit, dieselbe Tatkraft beweisen wie in den vergangenen Jahren. Wir haben gezeigt, dass wir geschlossen und schnell handeln können, in der Pandemie, bei der Überwindung ihrer wirtschaftlichen Folgen, beim Schutz von Natur und Klima, bei Energiesicherheit, bei der Unterstützung der Ukraine. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ich habe längst aufgehört zu zählen, wie oft mir gesagt wurde, dass dies nicht möglich sei. Dass die Mitgliedstaaten so etwas nicht unterstützen würden. Dass wir zu langsam oder zu uneinig seien. Und jedes Mal hat Europa sich behauptet. Jedes Mal hat Europa trotz aller Widrigkeiten sein Versprechen gehalten. Ich bin überzeugt, dass wir diesen Geist wiederbeleben müssen. Und wir sollten uns dabei auf vier zentrale Aufgaben konzentrieren, mit denen wir ein wirklich unabhängiges Europa aufbauen können.
An erster Stelle steht die Entwicklung einer neuen Form einer Pax Europaea des 21. Jahrhunderts die von Europa selbst gestaltet und gelenkt wird. Wir alle wissen um die entscheidende Rolle der NATO und unserer transatlantischen Partner beim Schutz unserer Sicherheit und Freiheit auf unserem Kontinent. Und das wird auch in Zukunft so bleiben. Wir haben aber gedacht, dass die Zeiten des relativen Friedens dank der NATO ewig währen würden. Die baltischen Staaten, Polen und die Länder Mittel- und Osteuropas haben uns gewarnt. Ihr Kampf für die Freiheit von der sowjetischen Unterdrückung hat sie mit Härten konfrontiert, die viele andere vergessen haben. Und wir wissen, dass dies bei uns zu einer gewissen Selbstzufriedenheit geführt hat – wir meinten, uns auf eine Friedensdividende verlassen zu können. Doch diese Zeiten sind vorbei. Gegner unserer offenen demokratischen Gesellschaften haben aufgerüstet und mobil gemacht. Dafür gibt es kein eindrücklicheres Beispiel als Putins brutalen, skrupellosen Krieg gegen die Ukraine. Russland und andere werden ihre Kriegswirtschaft weiter hochfahren. Deshalb wird die Notwendigkeit, in unsere Sicherheit zu investieren, immer dringender. Und es ist klar, dass diese Investitionen nicht von außen kommen werden. Die Zeiten ändern sich. Und Europa mit ihnen. Dass wir nun Finanzmittel in Höhe von bis zu 800 Milliarden EUR für Verteidigung ermöglichen, wäre noch vor wenigen Jahren unmöglich gewesen. Die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten ihre Verteidigungsausgaben auf historische Höchststände erhöhen, wäre ebenfalls undenkbar gewesen. Wir tun das, weil wir mit aller Macht den Frieden verteidigen werden.
Noch in dieser Dekade wird sich eine neue internationale Ordnung herausschälen. Wenn wir die Konsequenzen, die sich für Europa und die Welt daraus ergeben, nicht einfach hinnehmen wollen, dann müssen wir diese neue Ordnung gestalten. Die Geschichte verzeiht weder Zögern und Zaudern. Unser Auftrag heißt – europäische Unabhängigkeit.
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
die zweite Priorität lautet, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum der Erneuerung Europas zu rücken. Europa hat alles, um eine Führungsrolle in der Weltwirtschaft von morgen zu übernehmen. Einen Binnenmarkt, der Chancen für Erfolg und Wachstum eröffnet. Ein bewährtes Modell einer sozialen Marktwirtschaft, die die Grundlage bildet für Wohlstand und Lebensqualität. Einzigartige Talente und hervorragende Fachkräfte. Ein weltweit hoch anerkanntes Bildungssystem und Hochschulen. Unsere Universitäten sollen Magneten für Exzellenz werden. Und die Chancen, diese Vision zu verwirklichen, stehen gut. Ein riesiger Pool privaten Kapitals wartet darauf, investiert zu werden. Verlässliche Rahmenbedingungen für Unternehmen sind unser Markenzeichen. Wir sind führend in vielen Forschungszweigen, die die Zukunft bestimmen. Und wir verfügen über eine Industrie, die nur so strotzt vor Fachwissen und Erfindergeist. Aber wir sind uns auch der Tatsache bewusst, dass wir in vielen Bereichen schnell aufholen müssen, wenn wir im scharfen Wind des globalen Wettbewerbs Erfolg haben wollen. Wir haben einen Masterplan, um dies Wirklichkeit werden zu lassen. Einen Masterplan, der Investitionen in Innovationen, in Künstliche Intelligenz, in neue Technologien ins Zentrum unseres Geschäftsmodells rückt. Einen Masterplan, der Rücksicht nimmt auf die Umwelt, natürliche Lebensgrundlagen und die Gesundheit kommender Generationen. Einen Masterplan, der für europäische Industrietradition neuen Schub verleiht. Und der es leichter macht, Investitionen anzuziehen, ein kleines Unternehmen zu gründen und es hier in Europa wachsen zu lassen. Einfacher, schneller und dynamischer. Wir wollen, dass die Wirtschaftswelt sich für Europa entscheidet. Wir erleben, dass Länder aus allen Regionen der Welt mit uns in Kontakt treten, um mit uns zusammen zu arbeiten – weil wir verlässlich sind und uns an gemeinsame Regeln halten. Von Indien bis Indonesien; von Südamerika bis Südkorea; von Kanada bis Neuseeland. Natürlich wollen wir unsere Handelspartnerschaft mit den Vereinigten Staaten wieder auf eine festere Basis stellen. Wir werden stets darauf hinarbeiten. Aber wir wissen auch, dass 87 % des Welthandels mit anderen Ländern stattfindet, die alle Stabilität suchen und nach Chancen Ausschau halten. Und das kann Europa bieten. Und deshalb ist das Interesse so groß, sich für Europa zu entscheiden – „to choose Europe“. Denn ein unabhängiges Europa wird niemals ein abgeschotteter Kontinent sein – sondern immer offen und immer bereit zum Austausch mit der Welt.
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
die dritte Aufgabe für ein unabhängiges Europa ist, an der nächsten historischen Wiedervereinigung unseres Kontinents zu arbeiten. Die Länder Europas willkommen zu heißen, die sich aus freien Stücken für einen Beitritt zu unserer Union entschieden haben. Das ist für Europa nicht nur moralisch geboten. Es ist eine Grundvoraussetzung für ein stärkeres Europa – zu Hause und geopolitisch in der Welt. Eine größere, wiedervereinigte Europäische Union wird unserer Stimme in der Welt mehr Gewicht verleihen. Sie wird dazu beitragen, unsere Abhängigkeiten zu verringern. Sie wird gewährleisten, dass Demokratie, Wohlstand und Stabilität in ganz Europa gestärkt werden. Ein Beitritt ist selbstverständlich immer ein Prozess, der auf Leistung basiert. Doch ich bin davon überzeugt, dass die Geschichte uns jetzt ruft. Genau wie damals, 1989, als der Wind des Wandels Europa erfasste. Wir sehen doch jeden Tag in der Ukraine, was es bedeutet, für die Freiheit zu kämpfen. Wir sehen doch, welche Opfer die Menschen bereit sind zu bringen – seit nunmehr dreieinhalb Jahren. Ja, dies ist ein historischer Moment. Und wir dürfen ihn nicht untätig vorbeiziehen lassen. Wir müssen uns der Aufgabe stellen. Für die Ukraine. Für den Westbalkan. Für die Moldau-Republik. Hoffentlich für Georgien. Für all jene, die sich entschieden haben. Für eine freie und friedliche Zukunft in unserer Union. Für ein stärkeres und unabhängiges Europa.
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
die vierte Aufgabe untermauert all die anderen. Es ist die Aufgabe, unsere Demokratie zu erneuern und zu stärken. Uns allen ist bewusst, dass unsere Demokratien angegriffen werden – durch Widersacher von außen, die mit vereinten Kräften vorgehen, aber auch durch Versuche, sie von innen heraus auszuhöhlen. Wir müssen gegen diese Bedrohungen und Tendenzen ankämpfen. Für viele Menschen in Europa ist ein Leben ohne Demokratie noch eine gelebte Erfahrung. Für vielen in unserer Union ist die Erinnerung daran, noch frisch. Natürlich denke ich an jene, die die Unterdrückung durch das Sowjetregime erlebt haben. Aber auch an jene, die die Diktaturen in Griechenland, Spanien, Portugal oder andernorts durchlitten haben. Unsere modernen Demokratien sind noch jung. Und Demokratie erreicht man nicht ein für alle Mal. Man muss sie jeden Tag wieder mit Leben füllen. Und die Geschichte zeigt, dass sie viel schneller zerstört als aufgebaut werden kann. Wenn ich das Wiedererstarken extremistischer Parteien oder illiberaler Strömungen in Europa beobachte, bin ich besorgt. Das ist ein Trend, der nicht einfach vorübergeht. Doch weitaus stärker als die Sorge, ist die Verpflichtung, unsere Demokratien vor Angriffen zu schützen, sie zu stärken, sie zu bewahren. Und genau das tun wir. Ich halte nichts davon, über die Wählerinnen und Wähler von Extremen zu lamentieren. Nein, es ist an uns, die besseren Argumente zu liefern. Es ist an uns, die Gründe für ihre Unzufriedenheit zu verstehen. Viele machen sich Sorgen über den Umgang mit irregulärer Migration. Über hohe Lebenshaltungskosten, hohe Wohnkosten. Überbordende Bürokratie im Alltag. Wir schützen unsere Demokratie nicht dadurch, dass wir den Status quo verteidigen. Wir müssen Treiber von Veränderungen sein. Nur, wenn wir zeigen, dass die Demokratie funktioniert für die Menschen, dass sie liefert, nur dann können wir eine stärkere Union schaffen. Europa kann es nur gut gehen, wenn es der Demokratie gut geht. Das ist für mich Ansporn und Verpflichtung zugleich.
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
ganz am Anfang dieser Rede habe ich gesagt, dass Europa mein Leben ist. Schon als Kind auf der Europäischen Schule in Brüssel war Europa für mich etwas völlig Selbstverständliches und etwas Wunderbares. Wir hatten Sport mit den niederländischen Kindern. Im Kunstunterricht war ich mit den Italienern zusammen. Mit den Franzosen haben wir Geographie gelernt. Mit großen Augen habe ich auf all diese unterschiedlichen Menschen und Aktivitäten geschaut. Diese unterschiedlichen Sprachen. Aber ich begriff auch, dass wir alle einen Lebensraum teilten – und dass wir alle untrennbar miteinander verbunden waren. Inzwischen mögen einige Jahrzehnte vergangen sein, aber ich blicke immer noch mit denselben Augen auf Europa. Und ich glaube, dass es genau diese Verbindung zwischen uns ist, – so verschieden und so vielfältig wir auch sein mögen – die unser Europa ausmacht. Und ich finde es großartig, dass fast 17 Millionen junge Europäerinnen und Europäer dank des Erasmus-Programms in anderen Teilen Europas studiert haben. Weitere 17 Millionen arbeiten und studieren derzeit im Ausland. Das sind mehr als die gesamte Bevölkerung des Kaiserreichs unter Karl dem Großen. Ich träume von einer Union, in der jeder einzelne junge Mensch die Möglichkeit hat, in anderen Ländern Europas zu studieren oder zu arbeiten. Oder einfach nur ein Zugticket zu kaufen, um unsere Städte oder unsere Naturlandschaften zu erkunden. Dem Lauf der Donau zu folgen, wie sie sich durch zahlreiche Länder schlängelt. Oder die wilden Schätze der Karpaten, die endlosen Strände Dalmatiens oder die Tiefen des Schwarzwalds zu erkunden. Von anderen zu lernen. Jede und jeder sollte erfahren können, was Europa so einzigartig macht. Es mit eigenen Augen sehen können. Das ist unsere größte Stärke. Und das muss auch künftig das Fundament unserer Union sein. Immer dann, wenn unsere Kulturen zusammengefunden haben, hat Europa Wunder gewirkt. Beispielsweise als Goethe nach Italien reiste, angezogen von dem Licht der alten Hochkultur, die die Seele Europas geformt hat. Oder wenn die besten Forschenden der Welt, hier bei uns am CERN zusammenkommen, um die Geheimnisse des Universums zu lüften.
Und doch kann diese Begegnung der Kulturen niemals als selbstverständlich angesehen werden. Jahrhundertelang haben sich unsere Nationen bekriegt. Jahrzehntelang war das Band zwischen den beiden Hälften unseres Kontinents durchtrennt. Und auch heute noch gibt es diejenigen, die hartnäckig versuchen, uns gegeneinander aufzubringen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Menschen spüren, wie unsere jeweiligen Traditionen und Eigenheiten Teil eines größeren Ganzen sind. Und dass genau dies den Kern unserer europäischen Identität ausmacht. Ein anderer Karlspreisträger, der brillante Timothy Garton Ash, schrieb einmal: „Identität ist eine Mischung aus den Karten, die wir bekommen haben, und dem, was wir daraus machen.“ Wir können uns darauf konzentrieren, was uns trennt. Oder aber, wir können unsere Unterschiede zum Fundament eines stabilen europäischen Hauses machen. Unsere unterschiedlichen Geschichten zu einer gemeinsamen Zukunft verweben. Wir alle sind stolze Kinder unserer jeweiligen Länder. Doch unsere Wurzeln enden nicht an nationalen Grenzen. Unsere Seelen wurden durch die Erzählungen und Erfahrungen unserer Mitmenschen in Europa geformt. Wir sind nicht nur Italiener, Franzosen oder Deutsche. Nicht nur Schweden oder Spanier. Nicht nur Portugiesen oder Polen. Wir sind Europäerinnen und Europäer. Diese Empathie, diese Solidarität, diese Kultur. Das ist es, was uns als Europäerinnen und Europäer ausmacht. Das ist es, was mich mit Entschlossenheit und Optimismus in die Zukunft unserer Union blicken lässt. Das ist das Erbe, dass wir an unsere Kinder weitergeben müssen. Wir haben es ja von unseren Vorfahren geerbt. Es ist an uns, dies zu unserem unabhängigen Europa zu machen. Ich fühle mich unglaublich geehrt, diesen Karlspreis zu erhalten.
Lang lebe Europa.