Rede von Präsidentin von der Leyen anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)
„Es gilt das gesprochene Wort“
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Kulturminister,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Professorinnen und Professoren,
liebe Studentinnen und Studenten,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
es ist mir eine besondere Ehre, heute hier zu sprechen. 60 Jahre Medizinische Hochschule Hannover. Meine gute Alma Mater! Hier, nur ein paar Schritte weiter, im Nachbargebäude im Hörsaal A, habe ich meine erste Vorlesung in Anatomie gehört. Bei Professor Herbert Lippert. Hier, in diesem Hörsaal F habe ich Professor Rudolph Pichlmayr erlebt, der uns um 8 Uhr morgens eine zirrhotische Leber zeigte, die er nur vier Stunden zuvor bei einer Transplantation herausoperiert hatte. Er hatte die ganze Nacht operiert. Aber er ließ es sich nicht nehmen, am Morgen seine Vorlesung zu halten. Was für ein grandioses Vorbild! Und seine Frau Ina Pichlmayr: Fünf Kinder und eine volle Professur in der Anästhesiologie der MHH. Sie hat uns jungen Frauen damals Mut gemacht! In der Cafeteria habe ich vor über 40 Jahren die ersten zarten Bande zu meinem Mann geknüpft. Kennengelernt haben wir uns im Chor der MHH. Den Chor leitete damals Martin Brauß. Er ist heute Professor für Dirigieren an der Musikhochschule Hannover. Eine Koryphäe. Zu seinen Schülern gehören der Pianist Igor Levit und die Dirigentin Joana Mallwitz. Ungezählte Nächte habe ich als studentische Nachtwache in der Kinderonkologie verbracht. Zu einer Patientin – damals sechs Jahre alt – habe ich heute noch Kontakt.
Als Assistenzärztin habe ich dann im Oststadtkrankenhaus angefangen, in der Gynäkologie und Geburtshilfe. Mein Chef war Professor Jörg Schneider. Ein Visionär! Als ich das erste Kind erwartete, sagte mir ein Kollege: „Wie schade, wir hatten noch viel mit Ihnen vor.“ Kind oder Karriere – das war Deutschland in den 80er Jahren. Mein Chef Jörg Schneider aber sagte mir: „Gratuliere! Ich erwarte, dass Sie zehn Monate nach der Entbindung wiederkommen. So lange halte ich Ihnen Ihre Stelle frei.“ Ich werde nie das Gefühl der Panik vergessen, das ich hatte, als ich nach einem Jahr wieder auf Station anfing. Ich hatte das Gefühl, ich kann gar nichts mehr. Hätte Jörg Schneider mich nicht ermutigt, ich wäre sicher nicht mehr zurückgekommen. Und ohne diese Erfahrung hätte ich als Familienministerin weder das Elterngeld noch den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz eingeführt. Ein Jahrzehnt später habe ich bei Professor Friedrich Wilhelm Schwartz hier an der MHH einen Master of Public Health gemacht. Er war der erste, der in Deutschland diesen Studiengang einführte.
Damals ahnte ich nicht, dass ich 25 Jahre später eine globale Pandemie erlebe – nicht im Public Health Lehrbuch, sondern in der Wirklichkeit. Und dass ich mitverantwortlich dafür bin, dass Europa einen Impfstoff bekommt und auch wirtschaftlich die Krise meistert. Meine gute Alma Mater! Heute – 60 Jahre nach ihrer Gründung – ist die MHH eine der besten Kliniken der Welt. Sie steht für exzellente Lehre, Forschung und Krankenversorgung. Darauf können Sie stolz sein. So wie Sie auch stolz sein können auf den Leitspruch der MHH, der heute eine drängende Aktualität hat und über den ich gemeinsam mit Ihnen nachdenken möchte. Unitas in necessariis, libertas in dubiis, caritas in omnibus – Einigkeit im Notwendigen, Freiheit in Zweifelsfällen, Nächstenliebe in Allem. Ich weiß nicht, ob ich als Studentin groß darauf geachtet habe. Die Worte unitas, libertas, caritas, die auf jeder Urkunde der MHH prangen, schienen selbstverständlich. Aber sie sind es nicht. Die Werte, für die wir in Europa stehen, sind nicht mehr selbstverständlich.
Wer von uns hätte sich vor einem Jahr vorstellen können, dass in einer der innovativsten Demokratien der Welt per Federstrich Mittel für Impfprogramme zusammengestrichen werden. Dass eine hocherfolgreiche Wissenschaftsnation Programme kürzt, nur weil in deren Beschreibung die Wörter „weiblich“ oder „Klima“ oder „Vielfalt“ auftauchen. Niemand von uns hätte das geglaubt. Und doch ist all das heute Realität.
Vor diesem Hintergrund ist der Leitspruch dieser Hochschule – Einigkeit, Freiheit, Nächstenliebe – nicht nur eine Mahnung. Er ist ein Auftrag an uns und zugleich eine große Chance für Europa.
Unitas in necessariis – Einigkeit im Notwendigen. Uns eint die Überzeugung, dass Fortschritt für die Gesellschaft unerlässlich ist und der Schatz an Wissen unendlich. Wir wollen Krankheiten besser bekämpfen. Wir wollen die Gesundheit unserer Kinder besser schützen. Wir wollen das Leben unserer Mitmenschen besser machen. Deshalb bin ich Ärztin geworden. Deshalb arbeiten viele von Ihnen hier an der MHH als Pfleger und als Ärztinnen. Deshalb forschen Frauen und Männer, Junge und Erfahrene, hier an dieser Hochschule. Weil sie davon überzeugt sind, dass die Arbeit am Besseren notwendig ist. Aber diese Einigkeit droht unter die Räder zu geraten – unter die Räder von Ideologien. Der chinesische Arzt Li Wenliang warnte Ende 2019 Kollegen vor einer neuen Lungenkrankheit – COVID. Kurz darauf kam die chinesische Polizei zu ihm und zwang ihn, zu schweigen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Wertvolle Wochen der Vorbereitung auf eine weltweite Pandemie gingen verloren. Das passiert, wenn Ideologie mehr zählt als das Notwendige. Wenn die Logik der Macht mehr zählt als die wissenschaftliche Wahrheit. Dann verliert das Bessere, es gewinnt das Schlechtere. Deshalb ist es unsere gemeinsame Aufgabe, die Einigkeit im Notwendigen zu verteidigen.
Libertas in dubiis. In Kern geht es hier um die Freiheit zum Zweifel. Und diese Freiheit ist essentiell. Ihnen muss ich nicht sagen, dass Wissenschaft den Zweifel braucht wie die Luft zum Atmen. Nur, wer den Zweifel zulässt, entdeckt Neues. Wer dagegen sicher ist, alles zu wissen, raubt der Flamme der Erkenntnis den Sauerstoff. Ohne wissenschaftlichen Zweifel tritt die Menschheit auf der Stelle. Ohne wissenschaftlichen Zweifel hielten wir die Erde immer noch für den Mittelpunkt des Universums. Ohne wissenschaftlichen Zweifel hätte Neil Armstrong seine Stiefel nie in den Mondstaub gesetzt. Ohne den Zweifel gibt es kein verlässliches Wissen. Das entsteht ja gerade dadurch, dass Wissenschaft das Gedachte hinterfragt und das Ungedachte sucht. Nur so schafft sie Neues: von Gentechnik über KI zu Satellitensystemen. Nur so entsteht Fortschritt. Nur so meistert die Menschheit die Erkenntnissprünge, die es uns ermöglichen, globale Herausforderungen zu bestehen. Vom Klimawandel bis zu den Chancen und Risiken der Digitalisierung. Es gibt noch so viel zu entdecken, im Weltraum, in der Tiefsee, in den Bauplänen des Lebens auf unserer Erde. Deshalb ist die Freiheit der Wissenschaft so existenziell.
Ideologen fürchten den Zweifel. Autokraten relativieren Fakten und sabotieren systematisch die Suche nach Wahrheit. Fragen nach dem Warum sind eine Gefahr für ihre Dogmen. Deshalb ist der Zustand der Wissenschaftsfreiheit auch ein Gradmesser für den Zustand unserer Demokratie. Wird Wissenschaft drangsaliert, ist auch die freie Gesellschaft in Gefahr. Die Macht des Wissens hilft uns im gesellschaftlichen Diskurs Wahres von Falschem zu trennen. Wo das nicht mehr möglich ist, stirbt erst die Fähigkeit zum Kompromiss und dann mit ihr die Demokratie. Auch deshalb müssen wir die Freiheit zum Zweifel in der Wissenschaft mit aller Kraft schützen.
Europa ist stolz auf seine Forscherinnen und Forscher. Ihre Freiheit ist unser aller Aushängeschild. Wissenschaft hat keine politische Farbe. Sie ist offen, denkoffen, ergebnisoffen.
Europa hat viel zu bieten, Europa ist Heimat für mehr als zwei Millionen Forscherinnen und Forscher – ein Viertel der weltweiten Gesamtzahl. Dieser Kontinent hat mehr als 500 Nobelpreisträgerinnen und ‑träger hervorgebracht. Wir sind führend in sauberen Technologien, Gesundheit, Wirtschaft und Sozialwissenschaften ausgezeichnet in Luft- und Raumfahrt, Biotechnologie, Pharmazeutik. Wir haben mit Horizon Europe das größte internationale Forschungsprogramm der Welt – mit mehr als 93 Milliarden EUR. Aber wir müssen auch besser werden. Der Weg von der Grundlagenforschung bis zur Marktreife ist bei uns noch zu weit und zu kompliziert. Europa soll zu einem Magneten werden, der die Besten anzieht. Dafür bringen wir jetzt die „Choose Europe“ Initiative auf den Weg. Super-Stipendien mit einer Laufzeit von sieben Jahren sorgen für längerfristige Perspektiven. Ihnen muss ich nicht sagen, dass Wissenschaftsfreiheit auch Freiraum für die Wissenschaft braucht. Deshalb räumen wir überflüssige regulatorische Hürden aus dem Weg. Das soll das neue europäische Innovationsgesetz leisten. Und natürlich möchten wir alle, dass wissenschaftliche Exzellenz sich auch ökonomisch auszahlt. Deswegen werden wir es aufstrebenden jungen Unternehmen und Start-ups leichter machen, an Risikokapital zu kommen. Um es auf den Punkt zu bringen: Europa ist attraktiv und hat jetzt eine große Chance. Und diese Chance werden wir nutzen.
Caritas in omnibus – Nächstenliebe in allem. Ich denke oft an das sechsjährige Mädchen damals in der Kinderonkologie. Sie hat den Krebs überstanden und steht heute als erwachsene Frau mitten im Leben. Ohne den medizinischen Fortschritt wäre das nicht möglich gewesen. Wissenschaft kann den Ruhm eines Forschenden, eines Instituts oder eines Landes mehren. Und das ist großartig. Aber am Ende dient die Wissenschaft dem Menschen. Und die medizinische Wissenschaft dient ganz besonders den Kranken und Schwachen. Das eint Sie hier und das eint auch alle, die in Europa und weltweit Forschung jedweder Disziplin voranbringen. Mir hat diese Hochschule damals beste Bedingungen gegeben, mein Wissen zu mehren. Und ich will heute in meinem Amt alles dafür tun, dass auch andere unter den besten Bedingungen lernen, lehren und forschen können. Hier in Hannover, in Europa und hoffentlich überall auf der Welt.
Vielen Dank!